Frieder Döring
Corona-Krise – eine Chance?
In der letzten großen Krise vergleichbarer Art, die dieses Land erlebt hat, dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, bin ich geboren und aufgewachsen und habe diese Zeit der extremen Mangel- und Notwirtschaft als eine schöne, spannende und solidarisch geprägte Kindheit in Erinnerung!
Als ich 1993 zum ersten Urlaubseinsatz des Komitees „Ärzte für die Dritte Welt – German Doctors“ in den Bergdörfern der philippinischen Insel Mindanao unterwegs war, wurde ich zunächst geschockt vom Beobachten und Miterleben von Gesellschaften, die auf neusteinzeitlichem bis mittelalterlichem Niveau existierten, ohne Energieressourcen, ohne technische Hilfen, ohne medizinische und jegliche andere Versorgung von außen (wir waren die Ersten) und die mir trotzdem recht zufrieden und sogar glücklich erschienen – bei im Schnitt zehn Kindern pro Familie und einer Kindersterblichkeit von 30%!
Bei meinem zweiten Einsatz auf Mindanao zwei Jahre später hatte ich bewusst die gleiche Einsatztour mit der „Rolling Clinic“ zur gleichen Zeit in die gleiche Region ausgesucht, um mir anzuschauen, ob und was unsere früheren Einsätze dort bewirkt hatten. Unter anderem war ich dann auch wieder in einem Dorf, das inzwischen an die Elektrizitätsversorgung durch ein in der Nähe erbautes Wasserkraftwerk angeschlossen worden war. Zu meiner Verblüffung stand jetzt in jeder der etwa 20 Bambushütten des Ortes ein Fernseher, um den sich ab vier Uhr nachmittags die ganze Familie versammelte, um das Regionalprogramm zu schauen. Sie waren ihnen als Leihgaben von cleveren Händlern in die Hütten gestellt worden. Man muss dazu wissen, dass der gewöhnlich einzige Raum der 4 x 4 Meter großen Bambuspfahlbauten bisher eigentlich nur zum Schlafen der ganzen Großfamilie diente. Alles andere, wie Kochen, Waschen, Freizeitbeschäftigung usw. spielte sich bei dem warmen Klima draußen ab. So waren früher nach etwa 16 Uhr, wenn die Tagesarbeit auf den Reisfeldern beendet war alle Dorfbewohner auf dem Dorfplatz und vor den Hütten zum Plauschen, Spielen, musizieren bei gleichzeitigem bearbeiten von Nahrungsmitteln fröhlich miteinander beschäftigt.
So ähnlich hatte ich das in der Nachkriegszeit bei uns in Schladern im Sommer auch erlebt. Nun aber saßen die einzelnen Familien in ihren Hütten im Halbkreis um den Fernseher. Der Dorfplatz war leer. Sie sahen die tägliche Tele-Novela, und ihre Gesichter waren meist starr bis traurig. Ich hatte mich dazu gesetzt, um sie zu beobachten. In der Tele-Novela wurden philippinische Schauspieler gezeigt, die ein Familiendrama á la Lindenstraße spielten und ständig dabei ihre modernen Errungenschaften wie Kühlschränke, Waschmaschinen, Mobilar, vorführten und im Gegensatz dazu auch traurige Arme, die all das nicht besaßen. Jetzt war erkennbar in den Köpfen nur noch eine Idee angekommen: Zum Glücklichsein muss man die materielle Ausrüstung haben.
Am Ende dieses Einsatzes hatte es mich dann nochmal erwischt: hohes Fieber und schwerer Durchfall, die „Rache Moctezumas“! Ich lag eine Nacht lang mit meiner Isomatte auf dem Bambusboden, fieberte, träumte wild, musste dauernd raus und konnte kaum schlafen. Da wurde mir in den Fiebervisionen klar, dass uns die gerade angelaufene Globalisierung, vor allem durch die IT-Technik, die Wirtschaftsverflechtung und den Massenfernverkehr notgedrungener Weise große soziale Probleme bringen würde. Mindestens die Hälfte der Menschheit lebte wie diese Bergdörfler auf primitivem Niveau, würde aber in Bälde sehr genaue Kenntnisse von unserer hoch privilegierten Lebensweise in den Industrienationen bekommen und würde sich zu uns aufmachen wollen, wenn wir nicht unser Anspruchsniveau senken und einen Teil unseres erwirtschafteten Mehrwertes in die Länder der sogenannten Dritten Welt transferieren würden.
Seitdem verfolgte mich dieser Gedanke dauernd und ließ mich darüber nachdenken, wie dieser Ausgleich, dieser Transfer, politisch und wirtschaftlich zu bewerkstelligen sei. Durch die Flüchtlingskrise von 2015, die meine Sorgen bestätigte, wurde das noch mal aktualisiert, und wie es schien, hatten auch viele Politiker das Problem wohl erfasst und suchten nach mehr oder weniger sinnvollen Lösungen. Inzwischen war auch hier bei uns vieles nicht mehr ganz so perfekt organisiert und deutsch-gründlich geworden. Stichworte: Bahn, Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser!
Und nun kommt plötzlich, wie ein „Deus ex machina“ so ein winziges, übrigens recht hübsch aussehendes Virusteilchen aus China daher und verändert in wenigen Wochen unsere Gesellschaft, unsere ganze Welt! Im Mittelalter hat man die Pest- und Pocken-Seuchen oft schon bildlich als den großen Schnitter mit der Sense dargestellt, der die damalige „ganze Welt“, Europa, abmäht und die Gesellschaft gleich macht. So ähnlich, scheint mir, walzt dieses hübsche Biest derzeit vor allem erst mal die meisten Industrienationen und dann, wie es aussieht, die ganze Welt platt und schafft eine neue Not-Gemeinschaft.
Diese jetzt hier bei uns erkennbare Wiederentdeckung von Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl, wie ich es auch aus der Nachkriegszeit kannte, dazu die ebenfalls durch die Not aktivierte Kreativität, bieten uns vielleicht eine enorme Chance, dem bösartigen Neoliberalismus etwas entgegen zu setzen und wieder eine sozialere Gesellschaft zu formen, eine globale soziale Gesellschaft, wie ich sie mir auf Mindanao erträumt hatte!
Corona als Chance?